Die andere Heimat Erzählung by Gert Heidenreich

Die andere Heimat  Erzählung by Gert Heidenreich

Autor:Gert Heidenreich [Heidenreich, Gert]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426424179
Herausgeber: Knaur e-books
veröffentlicht: 2015-08-26T16:00:00+00:00


Jettchen erzählte später, sie habe in der Kirche für die armen Sperlinge gebetet und um Vergebung der Sünden für Gustav und Jakob. Sie war ihnen begegnet, wo der Lohwald an den Wiesen zwischen Kirschweiler und Schabbach endete.

Über die alte Römerstraße waren Jette, Florinchen und andere junge Leute aus Kirschweiler, gefolgt von ein paar Kindern, auf dem mit brüchigen Steinplatten belegten Fahrweg zwei merkwürdig aussehenden Reitern hinterhergelaufen, als Gustav und Jakob mit dem Sack voll Spatzenköpfe aus dem Wald kamen.

Der dumpfe Klang großer Trommeln flog den Reitern voraus. In ihren blauen Röcken mit ponceauroten Kragen und Ärmelaufschlägen, dunkelgrauen Hosen, dem weißen Bandelier und der schwarzen Kartusche daran sahen sie aus wie preußische Dragoner, doch trugen sie statt der Kappen oder Helme breitkrempige schwarze Hüte wie die Zimmermannsgesellen auf der Walz, und jeder hatte an seinen Hut eine weiße Straußenfeder gesteckt. Seitlich hing beiden eine Landsknechtstrommel am Sattel, und während sie gemächlich voranritten, schlugen sie wechselweise lässig mit einem Holzschlegel auf das Trommelfell, als ob sie ihren Pferden den Trab vorschlagen müssten. Ein drittes, das Packpferd mit der Drehorgel, führten sie am langen Zügel hinter sich her.

Die Jungen und Mädchen wussten, dass es die niederländischen Werber waren, die jährlich in die Dörfer kamen, um im Auftrag des Kaisers Dom Pedro II. von Brasilien Handwerker aus dem Hunsrück zur Auswanderung zu bewegen.

Peter II., einer der klügsten und gebildetsten Monarchen seiner Zeit, investierte in die Einwanderung nach Brasilien, um vor allem die Weiten im Süden seines Landes besiedeln und urbar machen zu lassen.

Wenn die Werber auftauchten, zogen sie stets neugierige Jugendliche und lärmende Kinderscharen hinter sich her, und so nahmen Jette und Florinchen an diesem Frühlingstag kaum wahr, dass Gustav und Jakob an ihrer Seite liefen und ihnen zeigen wollten, wie erfolgreich sie bei der Sperlingsjagd gewesen waren.

Endlich blieben sie stehen. Jakob öffnete den Schultersack. Die Mädchen blickten in das Gemenge aus kleinen Vogelköpfchen mit blutverklebtem Gefieder und nackten Augenlidern, die halb geschlossen waren. Manche Schnäbel waren noch aufgerissen im Augenblick des Todes, andere durch Gustavs Zugriff so verschoben, dass Ober- und Unterschnabel wie eine winzige Schere auseinanderklafften und dazwischen die blaue Spatzenzunge sichtbar war.

Als Jette erkannte, was sie sah, schlug sie die Hand vor den Mund und schloss die Augen. Florinchen schrie auf, wandte sich ab, als suche sie nach einem Fluchtweg. Der Kleinere der Werber hörte den Schrei, riss sein Pferd herum und meinte, zu Hilfe eilen zu müssen, konnte seinen überraschten Gaul aber kaum halten, der unter dem angerafften Zügel stieg, trappelte und laut wiehernd auf der Stelle stampfte. Die Kinder erschraken und stoben nach allen Seiten auseinander. Jettchen und Florinchen rannten ihnen nach.

Der zweite Werber, ein langer, hagerer Holländer, sprang von seinem Pferd und rief, sie sollten keine Angst haben, doch da war der Fahrweg schon verlassen, nur Gustav stand noch da, neben ihm Jakob, und neben dem lag der blutgefleckte Sack.

Der Werber hob ihn auf, sah hinein, warf ihn wieder hin und sagte in seiner fremden Satzmelodie:

»In Brasilien gibt’s keine Spatzen. Keinen einzigen. Aber schöne Weiber!«

Er schwang sich auf



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